Betroffenenberichte
Ich las jedes äussere Zeichen, als wäre es für mich bestimmt, ich interpretierte alles, das kleinste Lächeln, den kleinsten Blick. Ich stellte mir vor den Kindern vor, ich sei nichts als eine uniforme Masse, eine Erwachsene, die zur Larve wurde. Ich war eine Marionette ohne Rückgrat, die vor einem Haufen junger Menschen herumzappelte, so viele Richter, die mich beobachteten und jede meiner Bewegungen weitergaben.
Ich nahm einen Umschlag, der mich sehr beeindruckte: Mein Name stand dort in zwei Farben. Mein Vorname in schwarz, mein Nachname in blau. Das war ein deutliches Zeichen, dass man mysteriöserweise Bescheid wusste und dass man so die Auslöschung meiner Identität beschlossen hatte, dessen, was mein ist, bis in die Tiefe, derjenigen Identität, die durch meinen Vornamen dargestellt wurde. Ich stand wie versteinert vor meinem Briefkasten.
Überall ist Blut, es fliesst, es spritzt. Eine Blutlache überflutet den Boden und die Sitze des Busses der Verkehrsbetriebe in Neuchâtel. Du, kleine Dame, du streichst ordentlich die blonde Strähne weg, die dir die Sicht versperrt, ohne zu merken, dass das Blut auf einem Teil deiner Haare bereits gerinnt. Nur ich kann das Blut sehen, da es sich mit Sicherheit um meines handelt. Dieses Bild ist nur in meinem Kopf, in meinen Augen, in meinen weiteren und traurigeren Pupillen als die aller anderen Fahrgäste.
(…) ich erinnere mich nicht mehr wirklich an meine nächtlichen Wahnvorstellungen, aber trotzdem: Ich habe versucht, mich auf tausend Arten umzubringen, ich wäre sogar fast in einem riesigen Glas kalten Kakaos ertrunken; ich sah auch Winnie Puuh und Freunde meiner Mitbewohnerin zusammen feiern und mitten in der Nacht Weihnachtsplätzchen backen; meine Mutter hat mich geweckt, um mir zu sagen, dass eine berühmte Sängerin komme, und da in der Stadt kein Saal gefunden wurde, musste ich den Zuschauern mein Bett überlassen. Und ich, in dieser ganzen Verwirrung, der ganzen Begeisterung, ich schrie: «Lasst mich schlafen, lasst mich in Frieden.» Aber eine leise Stimme in meinem Kopf flüsterte lachend: «Du wirst verrückt, du wirst verrückt!
Wie dieses eine Mal, als ein Mann im Tram zu meinen Füssen zusammenbrach. Ich hatte ihn schon seit einer Weile beobachtet, als er zusammenbrach, plötzlich von Krämpfen gepackt. In diesem Augenblick gab es keinen Zweifel, dass der Mann durch die Intensität meines Blicks zu Boden gebracht worden war.
Auszüge aus dem Buch Doués de folie (herausgegeben von Nathalie Narbel und Samia Richle, Verlag Ed. Labor et Fides, 2006)
Martin lebt in Quebec. Nach vielen Rückfällen konnte er stabilisiert werden. Er hatte seitdem keine Selbstmordgedanken und keine Depressionen mehr. Nach der Krisenzeit machte er ein Diplom und erhielt sogar die Auszeichnung «Prix Meritas-Tabaret», die den drei besten Studierenden verliehen wird. Diese gab ihm die Möglichkeit, wie er es selbst beschreibt, neues Selbstbewusstsein aufzubauen, an seine Fähigkeiten zu glauben und zu verstehen, dass er trotz seiner Erkrankung in der Lage ist, seine Ziele zu erreichen.
Wenn ich heute an meine Jugend zurückdenke, frage ich mich, warum ich Drogen genommen habe. Wenn ich keine genommen hätte, wäre ich vielleicht nicht schizophren geworden. Leider werde ich das niemals erfahren, denn zurückgehen kann ich nicht. Laut meinem Arzt wäre ich vermutlich trotzdem erkrankt. Ich tröste mich damit, dass ich mir sage, dass die Erkrankung mich vielleicht später getroffen hätte, in meinen Zwanzigern.
Am Anfang schloss ich mich in meinem inneren Dialog ein und hatte die Wahnvorstellung, dass ein Weltkrieg ausgebrochen sei und dass die Mafia, die Teil dieser Konspiration war, mich jagte. Während ich meinen LKW fuhr, hatte ich auch Wahnvorstellungen über die Strassenschilder. Ich dachte, dass sie systematisch andere Dinge aussagen würden, dass sie in einer Art asiatischen Sprache geschrieben seien.
Ich habe magische Momente erlebt, die schwer zu beschreiben sind. Ich spürte eine grosse Hitze, von der ich glaubte, sie käme aus den Vereinigten Staaten. Dann kam der Sicherheitsbeamte, um mich zur Psychiatrie zu begleiten; im Aufzug war ich davon überzeugt, dass ich zum Himmel aufstieg und er mein Schutzengel war.
(…) wenn ich unter der Psychose leide, verliere ich jeden Bezug zur Realität.
Auszüge aus dem Buch Moi, Martin Bélanger, 34 ans, schizophrène
(Verlag Les Editions de l’Homme, Québec, 2005)
Ich lebte ein normales Leben, ich hatte einen interessanten Job mit Verantwortung, eine Wohnung und ein Auto, ich machte Sport. (…) Ich habe nichts kommen sehen, ich hatte nur immer weniger Energie für die Arbeit und fing an, Wahnvorstellungen zu haben: Ich sollte zu einem Treffen gehen, um die Welt zu retten. Eine andere Wahnvorstellung war, dass die Menschen um mich herum Freimaurer waren und dass ich ihre Tests bestehen müsste, um in die Loge aufgenommen zu werden. Ich dachte, der Papst würde sterben, und ich hörte Glocken. Kurz gesagt, paranoide und mystische Wahnvorstellungen.
Bei der Dekompensation konnte ich ziemlich schnell aus dem Krankenhaus entlassen werden, nach nur einer Woche, und ich hatte regelmässige Termine in einem ambulanten Pflegezentrum. Ich fühlte mich nicht gut, aber dank der Medikamente waren meine Gedanken wenigstens nicht mehr so wirr.
Meine Eltern waren zu diesem Zeitpunkt immer für mich da, mein Vater nahm sogar zwei Wochen Urlaub, um bei mir sein zu können. Ich ging mit ihm in der Natur spazieren und ich verbrachte auch eine Woche bei meiner Mutter.
Nach zwei Monaten fing ich wieder an zu arbeiten (…), was mir am meisten Angst machte war, dass ich mich nicht mehr in der Lage fühlte, dem Wettbewerb der Arbeitswelt standzuhalten, auch wenn ich mich an die Vorstellung klammerte, dass diese Dekompensation die einzige sein würde und ich weiterarbeiten könnte.
Man hat mir dann deutlich zu verstehen gegeben, dass ich mir eine andere Arbeitsstelle suchen müsste, was ich auch getan habe. Dort kam es bald zur nächsten Dekompensation und ich musste zwangseingewiesen werden, wie man so sagt. Ich musste mir eingestehen, dass ich an einer Erkrankung litt und dass ich Pflege und Medikamente benötigte. Ich habe mehrere Neuroleptika ausprobiert, bis eines gefunden wurde, das mir hilft. (…)
Langsam konnte ich mich in diesem Rahmen zurechtfinden, sodass ich von der Pflegeempfängerin zur Pflegeerbitterin wurde. Dies geschieht in mehreren Schritten.
Nach meiner Entlassung ging ich in eine Tagesklinik für psychische Erkrankungen. Das hat mir erlaubt, einen Wochenrhythmus einzurichten und neue Menschen kennenzulernen. (…) Diese Tagesklinik war ein wichtiger Schritt, ich blieb dort mehrere Jahre, zuerst Vollzeit, dann Teilzeit. (…)
Eine andere Sache, die mir hinsichtlich der Erkrankung geholfen hat, ist unser Haus in Italien (…). Es gab mir einen stabilen und sicheren Rahmen. Ich konnte mich erholen und lesen. Ich hatte nicht die Kraft, in einem unbekannten Rahmen Ferien zu machen, das stresste und verängstigte mich zu sehr (…).
Ich begann, meinen Frieden mit meinen Träumen von der Arbeitswelt zu schliessen: ich hatte Ambitionen, ich wollte Karriere machen (…). Ich musste das Faulenzen lernen und zugeben, dass ich nicht fünfzigtausend Dinge auf einmal machen konnte und dass ich einen ruhigeren Lebensrhythmus finden musste.
All diese Jahre hatte ich regelmässigen Kontakt mit meinem Pflegeteam und ich muss anerkennen, dass meine Eltern immer dabei waren und mit dem Pflegepersonal zusammengearbeitet haben (…).
Heute ist mein Gesundheitszustand stabil und es geht mir gut.
Berichte von nahestehenden Personen
Welcher Elternteil sieht sein Kind nicht mit Freude und Erleichterung das dünne Eis der Jugend verlassen, mit dem Kopf voller Pläne, voller Lust aufs Leben, vertrauensvoll in die Zukunft blickend, ein Beruf in den Händen, eine Ausbildung in den schönen Künsten, die sich dem Ende zuneigt, und ein Leben, das läuft wie gewünscht. Alles schien wie geschmiert zu laufen.
Natürlich gab es beim Übergang von der Kindheit zur Jugend ein paar schwierige Momente in denen die Eltern auf Posten bleiben, achtsam sind, bereit, ein offenes Ohr zu bieten oder einen Rat zu geben, um eine schärfere Kurve zu nehmen. Der Rest ist einfach!
Dann plötzlich zieht ein Sturm auf, der das ruhige Familienleben stört, ein Wirbelwind zieht über ein Leben, ohne grosses Aufsehen. Der Jugendliche, den Sie als ruhig, fröhlich, liebevoll und verspielt kannten, wird eine distanzierte, verschlossene, dunkle und unvorhersehbare Person. Nichts passt ihm mehr, er hasst die ganze Welt und ist davon überzeugt, dass die ganze Welt ihn hasst. Alles wird schwierig!
Auch wenn Sie als Mutter auf Distanz gehalten werden, werden Sie immer aufmerksamer, ohne zu verstehen, was vor sich geht. Sie spüren, wie sich das Familienmitglied in einen Fremden verwandelt, immer weniger greifbar, da sein Alltag, seine Meinungen, seine Aussagen einen wirren Aufbau erhalten. Alles macht Ihnen Angst!
Und ohne dass es so aussehen darf, als würden Sie sich einmischen – Sie stehen schliesslich einem Erwachsenen gegenüber – beobachten Sie, entschuldigen Sie sich, versuchen Sie es mit Elterninitiativen, aber spüren doch, dass Ihr Kind taumelt, dass er sich rückwärts in den Abgrund bewegt, aus dem er doch gerade erst herausgekommen war. Alles geht flöten!
Dann kommen wie ein Wirbelwind verrückte Reisen, wiederholte Umzüge, alarmierende Neuigkeiten, Wahnvorstellungen, unzusammenhängende Handlungen und schliesslich die Einweisung in ein Krankenhaus. Alles wird einen Moment lang ruhiger!
Von diesem Moment an ist für die nahestehenden Personen warten angesagt. Man muss verstehen, die Energieressourcen mobilisieren, um für das von der Erkrankung gebeutelte Kind da sein zu können, das Sie leiden sehen, während Sie sich machtlos fühlen. Alles muss wieder aufgebaut werden!
Langsam, Schritt für Schritt, mit Höhen und Tiefen, wenn man sich Zeit nimmt, bilden der Erkrankte, das Pflegeteam und die nahestehenden Personen ein Team. Jedes Teammitglied muss seinen Teil der Arbeit leisten, damit das Boot sicher in den Hafen geleitet werden kann. Man muss mit Rückschlägen klarkommen, im Sturm manövrieren, um ohne zu zerbrechen herauszukommen und wieder loszusegeln. Unglaublich! Wie ruhig die Flauten sind und wie angenehm die Ausflüge bei gutem Wetter. Alles geht weiter!
So habe ich gelernt, dass eine ganze Existenz durch Liebeskummer und den Selbstmord der geliebten Person aus den Angeln gehoben werden kann. Die Schizophrenie profitierte davon, dass mein Sohn von seinen Emotionen überwältigt wurde, in die Verzweiflung gestürzt wurde, und traf mit voller Kraft auf einen jungen Mann, der so oft sagte, wie «sehr er das Leben liebt». Heute sage ich mit, dass Liebe alles kann!
Bericht verfasst von Anne Leroy
(l’îlot, Association vaudoise de proches de personnes souffrant de schizophrénie, www.lilot.org)
Berichte/Interviews Pflegepersonal
Am Anfang meiner Karriere sagte man uns, dass die Schizophrenie eine chronische Erkrankung sei und dass man den Patienten vor allem dabei helfen müsse, mit einer Behinderung zu leben und zu verstehen, dass sie ihr Leben lang Medikamente einnehmen müssen.
Seit einigen Jahren spricht man ganz anders über diese Erkrankung. Man hört den Patienten besser zu und man versucht, partnerschaftlich mit ihnen zusammenzuarbeiten. Wir wissen Dinge über die Erkrankung, unter der sie leiden, aber sie sind die Experten ihres Lebens und ihrer Wünsche. Man versucht daher eher, ihnen unser Wissen zur Verfügung zu stellen, statt sich ihnen als überlegen zu präsentieren.
Im Lauf der Jahre habe ich erstaunliche Erfahrungen gemacht und bereichernde Begegnungen gehabt; ich sah Patienten, die ihren Weg wiederfanden und ihr Leben in den Griff bekamen, obwohl alles so schwierig und unmöglich aussah. Einige suchen weiter nach ihrem Gleichgewicht, aber andere konnten aus der Einsamkeit ausbrechen, ihre Unabhängigkeit wiederfinden, manchmal sogar ihr Studium abschliessen, eine Arbeit finden, ein normales Leben leben …
Man kann jedoch sagen, dass das Leben für sie nie wieder wie früher sein wird … Das stimmt zwar, aber für mich auch nicht: diese Erkrankung wirft Existenzen über den Haufen und stellt uns vor Fragen, die bis hin zu Fragen darüber führen, was uns Menschen eigentlich ausmacht. Mit an Schizophrenie erkrankten Personen zu sprechen, bringt uns manchmal in Bereiche, in denen sicher Geglaubtes nicht mehr sicher ist, in denen man zugleich die Zerbrechlichkeit und die Stärke der Seele sieht. Aber jedes Mal habe ich auch die zentrale Bedeutung der Herstellung einer Verbindung, der Beziehung von Person zu Person, gespürt, wenn man ihnen helfen können möchte, einen Teil ihres Gleichgewichts zurückzuerlangen. Ich habe zudem gelernt, dass es verschiedene Definitionen von Heilung gibt und dass am Ende nur zählt, dass die Person sich wiederfindet und dass sie ein gewisses Mass an Harmonie empfindet.
Bericht verfasst von Dr Philippe Conus
(Abteilung Psychiatrie – CHUV)